Das tibetische BARDO System Das tibetische Wort Bardo ist auf verschiedene Weise übersetzt worden, doch im Wesentlichen bezeichnet es einen Durchgang, eine Übergangsstufe. Manche definieren es als Raum oder Zwischenraum, andere als Tor oder Eingang. Wie es scheint, bezeichnet es ein evolutionäres Stadium, das der Metamorphose gleicht, einer Stufe des Übergangs von einer Zeitperiode oder Ordnung in die nächste. Im Allgemeinen bringen wir die Bardos mit der postmortalen Erfahrung in Verbindung, aber in Wirklichkeit ist auch der jetzige Augenblick ein Bardo. Wir neigen zum Glauben, dass wir erst dann vor diesen Toren stehen, wenn wir den Körper verlassen. Doch dieser Glaube umfasst nur einen Teil der Wahrheit. Wir befinden uns jetzt, in diesem Moment, im Bardo. Gewahrsein und Gedanke verbinden sich, um Bewusstsein zu erzeugen, ob man sich nun innerhalb oder außerhalb das Körpers befindet. Während des Schlafes, wenn der Körper relativ untätig ist, setz das Gewahrsein seine Fühlungnahme mit den Gedanken und Empfindungen fort, die vom Impuls der mentalen Energie erzeugt werden. Zweifellos sind die Bewusstseinserfahrungen nicht von der Aktivität des Körpers abhängig. Wenn einem Körper der ihm innewohnende Energiestrom des Lebens entzogen wird, bricht der Körper sofort zusammen. Der Körper ist von Bewusstsein und Gewahrsein existenziell abhängig, obgleich wir uns immer dem Glauben ergeben haben, das eine Abhängigkeit in diametral entgegengesetzter Weise besteht. Es gibt sechs Bardos. Der erste von ihnen ist der Bardo der Geburt; man könnte ihn als eine Zeitperiode der Geburt, als Bardo des Hervortretens bezeichnen- als die Übergangserfahrung des Bewusstseins innerhalb eines Körpers, der in sein eigenes unabhängiges Dasein in dieser Sphäre eintritt. Der zweite ist der Bardo des Erdenlebens; es ist ein Bardo des Werdens, der Entwicklung des Kindes zum Erwachsenen, ein Bardo des Lernens, des Alterns und der Wechselhaftigkeit der Lebenswege. Dieser Zeitabschnitt kann sehr viel kürzer sein als der erste oder auch hundert Jahre länger währen. Man kann den Bardo des Lebens auch als „Bardo der leeren Hand“ betrachten - als eine Folge angehäufter Wünsche, Verlangen und Pläne, die auf zukünftige Identitätsträume ausgerichtet sind. Der dritte Bardo ist der Auflösung, dem Zerfall zugeordnet. Es ist der Bardo der Augenblicke vor dem Tod. Er bezeichnet den Austritt aus der scheinbaren Materialität, einen umfassenden Rückzug, ein Hinüberfließen von der physischen Form in subtilere Realitäten. Der vierte Bardo ist wiederum ein Bardo des Hervortretens. Es ist der Bardo der Augenblicke nach dem Tod. Es ist zu bemerken, dass so etwas wie ein Tod nicht vermerkt wird und nur die Augenblicke vor und nach dem Tod existieren. Der Begriff „Tod“ findet in der Realität keine Grundlage. Für den Körper besteht ein Augenblick, in dem er belebt ist, und ein sich anschließender Moment, indem er unwiderruflich zu einem leeren Gefäß geworden ist. Unter diesen Umständen sind es nur die Inhalte des Gefäßes, die zurückgerufen werden können, nicht das Gefäß selbst. Es ist wie bei einer Glühbirne, die von einem Moment zum anderen erlischt, weil ihr der durchfließende Strom, der uns erhellte, entzogen wurde. Die Glühlampe hat sich nicht verändert- nur der Strom, der sie in Funktion setzte, durchfließt sie nicht mehr. Es gibt keinen Zeitpunkt dazwischen. Nur der Körper stirbt. Aus der Sicht des Körpers stellt sich dieser Bardo ein, wenn sich der Tod deutlich bekundet. Doch der Körper war nie aus sich selbst heraus lebendig, nur die Lebenskraft (was auch immer dieser Begriff auszudrücken mag) hat sich aus ihm zurückgezogen. Im Übrigen ist der Körper, wie es jemand darlegte, eigentlich zu keiner Zeit so aktiv wie nach dem Tod, denn er unterhält Myriaden von Mikroben und eine Vielzahl von Geschöpfen, die von seiner Zersetzung ihr Leben bestreiten. Nach dem Tibetanischen Totenbuch ist es der vierte Bardo, der Übergang nach dem Tod- das Hervortreten- von dem man oft sagt, das in ihm das große Licht in Erscheinung tritt, welches Dharmata genannt hat, (oder der Urgrund des Seins, wie ich es nenne), und in dem die Essenz des Seins, aller Identifikation mit dem körperlichen Grenzen enthoben, vor uns erstrahlt. Viele betrachten ihn also einen der wichtigsten und günstigsten Abschnitte einer Inkarnation. Der fünfte, der Bardo der Todesperiode, ist wiederum einer des Durchwanderns, indem wir in die nächsten Stadien des Lernens, des Alterns und des Wachstums hinüberwechseln. Diese treten in Erscheinung, wenn unser Geist seine konditionierten Inhalte eines Lebens der Verhaftung und der Suche nach Schutz und Sicherheit durchläuft. Er bezeichnet eine Entwirrung der Vergangenheit, eine neue Gelegenheit zur direkten Begegnung mit den Formen und Gestalten, die aus dem Geist hervorgehen und unsere Perspektiven bestimmen. Es ist dieser Bardo, indem wir vielen jener friedlichen und grimmigen Gottheiten begegnen (d.h. den positiven und negativen Aspekten unseres Bewusstseins). Und er ist die Sphäre, von der man sagt, dass wir den zehntausend freudenreichen und finsteren Aspekten des Geistes gegenübertreten. Doch lassen sich diese Erscheinungen ohne Weiteres auch in unserem gegenwärtigen Bardo beobachten. Wie der zweite Bardo, der Bardo des Erdenlebens, mag auch dieser Bardo des Todes dem zeitorientierten Denken als von unbestimmter Dauer erscheinen. Der sechste Bardo, der des Augenblicks vor der Geburt, ist abermals von Auflösung gekennzeichnet. Es ist der Augenblick der Auswahl einer neuen Geburt, der Wahl einer Inkarnation. Er ist der Zeitpunkt, in dem man von seinem nächsten Stadium der Entwicklung angezogen und von seinem Verlangen in einem neuen Mutterleib geführt wird, aus dem man in eine Welt eintritt, die nur allzu häufig zu viel oder zu wenig Platz bietet. Der Gebrauch der Bardo- Konzepte ist ein zweckmäßiges Mittel, um aufzuzeigen, dass die Illusion genau jetzt stattfindet, wo auch immer wir uns gerade an etwas klammern. Interessanterweise lässt sich auch feststellen, dass diese Bardos einem bestimmten Prozess des Entstehens (des Hervortretens), der Existenz, das Durchwanderns und der Auflösung folgen, der genau den Bewusstseinszuständen entspricht, deren Entstehung wir in uns beobachten und die für einen Moment existieren, um wieder zu vergehen und das nächste Hervortreten, die nächste Existenz und Auflösung hervorzurufen. Die Beobachtung der unablässigen Fluktuation das Geistes zwischen Geburt und Tod bereitet uns auf unsere nächste Inkarnation vor, wie auch immer sie aussehen mag. Es ist die Beobachtung dieses Prozesses von Schöpfung und Zerfall, die uns von unserem Gefühl der Solidität, von unserer Gleichsetzung mit einem schutzbedürftigen „Jemand“ befreit. Es ist klar, dass die Bardos des Hervortretens untereinander austauschbar sind. Dass sich die Geburt und die Zeitperiode nach dem Tod entsprechen, dass die Bardos des Durchwanderns eines Daseins, des „Lebens“ und des „Todes“, von den gleichen Bewusstseins- Elementen und früheren Tendenzen bestimmt werden. Dass die Bardos aus der Auflösung, der Augenblicke vor dem Tod und vor der Geburt gleichfalls untereinander austauschbar sind. Abgestimmt auf jede neue Übergangsstufe, dir uns erwartet, sterben wir Augenblick für Augenblick in die Unsterblichkeit hinein. |
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